Im Rahmen des Deutschunterrichts haben wir im Grossthema Holocaust Literatur in kleineren Gruppen einen Zeitungsartikel gelesen und besprochen. Der Zeitungsartikel meiner Gruppe ist vom März 2025 und thematisiert das Schweigen von Papst Pius XII gegenüber der Shoah. Obwohl viele Gläubige der Zeit ihn um eine Stellungnahme baten und zahlreiche Briefe mit einem dringlichen Hilferuf ihn erreichten, kam es nie zu einer öffentlichen Verurteilung seitens des kirchlichen Oberhauptes gegenüber dem Verbrechen der Nationalsozialisten. Über den Grund für dieses Schweigen wurde lange aufgrund mangelnder Informationen spekuliert. War Pius XII antisemitisch? Wusste der Papst nichts oder zu wenig von den Geschehnissen? War er sich den Folgen seines Schweigens bewusst? Der Grund für das weitgehende Fehlen an Informationen war die Unzugänglichkeit der vatikanischen Archive für die Zeit von Pius XII. Dies hat sich im Jahre 2020 mit der Öffnung der Archive geändert. Schlagartig hatte man Zugang zu persönlichen Notizen und haufenweise Dokumente dieser Zeit. Die Aufarbeitung dieser Dokumente ist noch nicht abgeschlossen. Viele Thesen, wie diejenige über das Unwissen von Pius XII, konnten schnell widerlegt werden. Man erfuhr von den Briefen, welche Lebenssituationen von Verfolgten schilderten sowie von einem jesuitischen Informationsnetzwerk, wessen Fäden bei einem Geheimsekretär von Pius zusammenliefen. Auch fand man Niederschreibungen von Aussagen von Pius, welche ein gewisses Verständnis der Folgen seines Schweigens darlegen. So beschreibt er das «gewaltige Geschehen im ausserkirchlichen Raum» als «verhängnisvoll» und schreibt weiter, «Wo der Papst laut rufen möchte, ist ihm leider manchmal abwartendes Schweigen, wo er handeln und helfen möchte, geduldiges Harren geboten.»
Warum also schwieg Papst Pius XII?
Die Antwort ist bereits im letzten Zitat zu lesen. Er schreibt «es ist ihm (dem Papst) geboten». Er fühlt sich also verpflichtet zu schweigen. Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Zu Kriegsbeginn in den Jahren 1939/40 wurden eine Million polnische Katholiken von den Deutschen ermordet. Der Papst befürchtete negatives Feedback im Anblick, dass er bei einem Genozid gegen Katholiken schwieg und sich dann aber bei einem Genozid gegen die Juden öffentlich aussprechen würde. Der zweite und womöglich triftigere Grund war sein Verständnis der kirchlichen Obligation für alle da zu sein. So schreibt der Zeitungsartikel: «Der Papst wollte über den Parteien stehen und strikte Neutralität wahren, zumal er nach seinem Selbstverständnis als «Padre comune» für Katholiken auf allen Seiten der Fronten da sein musste. Er fürchtete, seine Äusserungen könnten von einer Kriegspartei instrumentalisiert werden.» Er verstand die Kirche als offener Zufluchtsort für alle, der sich nicht in die politischen Machtverhältnisse einmischen sollte. In einem an den Papst adressierten Brief wurde die Frage aufgeworfen, wie man in einer Situation zwischen Mörder und Opfer neutral bleiben kann. Ich fand diese Frage sehr zeitnah. Im öffentlichen Diskurs in der Schweiz bezüglich des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine wurde dasselbe diskutiert. Anfangs war noch nicht klar, ob die Schweiz Sanktionen gegen Russland verhängen würde und wenn ja, wie tiefgreifende. Zudem gab es kritische Stimmen, als die Schweiz das Weitergeben von Schweizer Munition von Deutschland an die Ukraine untersagte. Ist es feige oder scheinheilig, von der Schweiz, keinen aggressiveren Standpunkt einzunehmen? War es feige vom Papst? Ist man moralisch verpflichtet sich zu äussern, wenn jemand im eigenen Verständnis der Ethik unethisch handelt? Ich glaube, die Frage ist nicht final zu beantworten. Ich empfinde es als richtig, dass es es Institutionen geben sollte, welche generell bei politischen Geschehen aussenvorbleiben. Doch wo genau die Linie zwischen Institutionen liegt, welche sich enthalten sollten, und anderen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen sollten, ist unklar. Es gab auch im Sport Ausschliessungen von russischen Athleten/ Teams. Wenn man damit Druck auf den Kreml ausüben kann, sehe ich auch, wie man solche Massnahmen durchaus legitimieren kann. Um eine Antwort auf die Frage nach der wahren Neutralität zu finden, muss man die Rolle der eigenen Institution/des eigenen Staates klar definieren können. Der Papst verstand die Kirche als eine vollständig unpolitische Grösse. Dann ist es legitim, sich nicht öffentlich politisch zu äussern. Die Schweiz als unpolitischen Staat zu verstehen, ist etwas weit hergeholt. Sie entschied sich für einen Mittelweg. Es wurden Sanktionen verhängt, jedoch nicht militärisch eingegriffen. Schlussendlich ist es eine moralische und fliessende (im Sinne von nicht schwarz-weiss, Spektrum) Frage. Es lohnt sich, darüber zu diskutieren und Meinungen zu teilen. Eine finale Beantwortung wird man meines Erachtens jedoch nie finden.